Die Stulle

Die Stulle lag brach auf der Fläche, ihre Seiten waren trocken, fraglich, ob überhaupt noch Leben in ihr war. Ich biss dennoch ab und es gefiel mir, längst vergangener Geschmack bohrte sich in meinen Gaumen, er war so schwach, dass ich lange schmecken musste, um ihn überhaupt zu erfassen. Erdbeermarmelade und Butter war es wohl gewesen, bevor der Schimmel einschlug. Auch schmeckte ich längst vergorene Körnersorten, die Stulle konnte wohlmöglich Alkohol enthalten. Ich kaute kräftig, der Würgreiz brachte mich mehrere Male aus dem Gleichgewicht, ich lehnte mich vorn über, aber hielt die Zähne fest zusammen.
Eine Metapher könnt es nun sein, oder eine wahre Geschichte aus dem Kühlschrank oder eben nicht aus dem Kühlschrank, vielleicht eine Stulle, die unbeachtet ihre Tage hinter der Heizung gezählt hatte. Eklig würde es wohl in jedem Fall sein, Vergangenheit, Vanitas, Verfall, all diese Motive könnten in der Stulle stecken, aber auch Hoffnung ist da. Oder nicht? Würde man sonst in eine verfaulte Stulle hineinbeißen, würde man verzweifelt den Gärprozess und den Pilzbefall außer Acht lassen nur um den Geschmack zu erahnen, würde man?
Das Alte.
Ich kann mir vorstellen, dass das Alte so sein kann. Abstoßend, aber verlockend durch seine Beständigkeit.
Wir reden hier nicht von einer Ekelhaftigkeit würd ich sagen, vielleicht eher von einer Idee.
Eine alte Idee. Eine überholte Idee, eine, die nicht mehr mithalten kann, mit der Schnelllebigkeit.
Romantik?
Muss Romantik langsam sein?
Eine Idee kann romantisch sein. Ideen sind meistens romantisch, zumindest die, die kaum zu erreichen sind.
Die romantische Fäulnis, eine Art Vortodsphase.
Die Ehe?
Reden wir davon? Ist das die alte Idee, die romantische, die treibt und ziehen soll bis hin zum Tod.
Ist die Ehe die romantische Fäulnis oder eine unromantische Faulheit?
Beständigkeit als Nährboden für Faulheit, Faulheit als der Beginn der Fäulnis, Beständigkeit das Ende der Romantik.
Ist Romantik nicht durch Angst vor Unbeständigkeit geschürt?
Angst vor dem Tod, Angst vor dem Zertrennen.
Fäulnis.

Sie nannten ihn Jimmy

Sie nannten ihn Jimmy, „the ugly one“, der mit dem vernarbten Gesicht. Anke kannte ihn von früher, war sogar mal in ihn verliebt gewesen, ›voll die hässliche sau‹ hatte man ihr hinterher gerufen und nach ein paar Jahren, die sie einsam und abgeschottet hauptsächlich im Internet gelebt hatten, da fanden sie eines Abends zusammen. Jimmy hatte sich prompt an diesen Abend dazu entschieden doch einmal aus zu gehen und so fand er sich schließlich im kahlen Speiseraum der Dönerbude bei sich unten im Haus wieder. Gerade noch, kurz bevor er sich so gut als möglich angekleidet hatte, war sein Interesse bei einigen fesselnden Beiträgen der Internetgesellschaft hängen geblieben. Darunter befanden sich der berühmte, wie von meisterhaft geschriebene Bericht von Kurt Jacksony, der ausführlich berichtet hatte, wie sie ihm im Knast unter die Schürze gelinst hatten, außerdem ein Beitrag über Franck Riberys Ausflug in die Welt der bezahlten Liebe und schlussendlich erblickte er die sanften Zeilen eines gewissen Max Devantier, der ihm vorher nie aufgefallen war.

Nun saß er, mit Hemd und ordentlicher Hose, es war seine beste, neben dem fetttriefenden Schweinsspieß, der sich knusprig braun dem Schwarzen näherte. Wie mechanisch schwang die Hand des türkischen Mannes auf und ab und schnitt in immer der selben Fleischdicke wunderbare Scheiben ab, die herunterfielen und sich auf einem Berg sammelten. „Mit alles?“
Jimmy schreckte auf.: „Ja klar, man“ er versuchte krampfhaft normal zu sprechen, „hauen sie auch dick scharfe Soße drauf Meister“. Der Mann, vom Namenschild als Emre zu erkennen, schaute ihn kurz entgeistert an, lachte dann kurz auf und rief etwas, in orientalischer Sprache in den Hinterraum. Schallendes Gelächter erklang und Jimmy, dessen Soziales Einfühlungsvermögen noch nicht so weit geschädigt war, erkannte, dass er sich mal wieder richtig auffällig benommen hatte. Er verhielt sich im Weiteren ruhig und nahm den Döner sachlich entgegen. Wie er so am lieblos, mit hellblauber Plastedecke überzogenen Tisch saß, bemerkte er in den Augenwinkeln, dass eine Frau den Laden betrat. Entschlossen blickte er auf. Sie war es – Anke, ›die hässliche Sau‹. Es klang ihm immernoch in den Ohren, das Gezeter vom Schulhof, die Wurst und Käsestullen, die sie nach ihr geworfen hatten. Ihre von Pickeln überzogene krumme Nase bohrte sich in seine Gehirnwindungen und öffnete Türen darin, die er gehofft hatte für immer verschlossen zu haben. Immer neue Erinnerungsfetzen tauchten auf, setzten sich wie von Geisterhand zusammen und ergaben schlussendlich ein grausames Bild und das von grässlichem Lachen begleitete ›the ugly one, the ugly one, his body like a penisbone‹ drang ihm wieder ins Gedächtnis. „Nein, nein, fuck,“ rief er aus. Der Dönermann lachte wieder. Anke aber schaute ihn nun plötzlich an und auch sie erkannte ihn sofort wieder. „Jimmy“ sprach sie verdutzt, „du lebst!?“

Jimmy rang mit sich, das war deutlich zu sehen: „Wie ich lebe? Klar, was soll ich sonst machen?“ Anke kam auf ihn zu. Tänzelnden Schrittes wich er immer weiter zurück. Stand nun ganz nah bei dem immerfort drehenden Fleischgewultst, die Hitze drückte ihm kleine Schweißperlen aus den Poren. „Du brauchst doch keine Angst vor mir haben Jim. Ich meinte das nur, weil ja auch du Selbstmordgedanken hattest. – Das habe ich zumindest gehört.“ Jimmy schluckte: „Wer erzählt denn sowas. Mir geht es gut. Ich habe eine Job, eine Wohnung und ich kann mir einen anständigen Döner leisten.“ Anke lächelte wieder. Er sah ihr tief in die Augen, vernahm auch die runzlige Haut, das viel zu fett aufgestrichene Makeup, den Spliss in ihren Haaren, die ganze Hässlichkeit, die sie so darstellte, aber er empfand es nicht als Last. Anke bestellte derweil eine Portion Pommes mit Süß-Saurer Soße, die der Mann aus einer gammeligen Plastikflasche presste, wie er es wohl schon tausende Male vorher getan hatte. „Zwei-Fünfzig Bitte.“ Sie reichte ihm einen Hunderteuroschein. Wieder schaute der Mann kurz entgeistert, rief etwas nach hinten und zahlte zurück. „Wollen wir uns draußen auf eine Bank setzen?“ nahm sie das Gespräch mit Jimmy wieder auf, „es ist eine laue Sommernacht, sodass wir den Kitsch auch einmal extrovertiert ausleben können.“ Jimmy nahm seine Portion und folgte ihr. Wie bewunderte er ihre gefestigte Art. Irgendwie musste sie an Selbstvertrauen gelangt sein, dachte er – nur wie?
Draußen war es tatsächlich recht warm, zumindest für einen Mai, der sich ansonsten nicht mit wärmendem Ruhm bekleckert hatte. Anke aß genüsslich ihre frittierten Kartoffelstangen und führte dabei einen kleinen Monolog. Das passte gut, denn Pommes machten sich immer hervorragend, wenn man nebenbei sprechen wollte. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig im Mund, schmackhaft, aber nicht so, dass man dabei den Inhalt des Gespräches vergessen konnte. Jimmy hingegen knabberte noch immer am kaltgewordenen Schweinefett. Dabei lauschte er der lieblichen Stimme seiner Anke und Ja – Ja, er dachte nun schon an seine Anke, sie war ihm so vertraut geworden. Innerhalb von Minuten war er um Jahre zurückgekehrt und mit ihr fühlte er wieder die Hoffnung, die sein junges Leben noch bot.
„Wie hast du es geschafft so viel Selbstvertrauen anzuhäufen,“ fragte er sie direkt: „Ich meine dir ging es doch auch verdammt dreckig damals oder nicht? Warum bist du nicht wie ich geworden?“
Anke kaute wieder, nahm nun gefräßig mehrere Pommes mit einmal in den Mund: „Ich hab einen von denen umgenietet.“ Jimmy’s Atem stockte. „Wie umgenietet?“
– „Na ich hab den abgeknallt. Direktes Blei in die Fresse.“
„Du hast jemand umgebracht?“
– „Ja klar. Den Tom Bronko oder wie der hieß. – Ich hab den vor ein paar Jahren wiedermal zufällig getroffen bei einer Fete in meinem Heimatdörfchen. Da hat der mich dermaßen blöde angemacht, dass ichs durchgezogen hab.“
„Aber warum bist du dann auf freiem Fuß?“
– Anke lachte: „Ich bin vielleicht potthässlich, aber blöde kannst du mich nicht nennen. Hab gewartet, bis er richtig voll war. Immer schön einen Holundersekt nach dem anderen eingeschenkt. Dann hab ich ihn unter einem Vorwand zum Schlafsaal der jungen Mädchen geführt.“
Jimmy merkte wie ihm der Atem stockte. Das Blut gefror in seinen Adern.
– „Ich wusste schon immer, dass der eine perverse Sau ist. Also bin ich kurz weggeschlichen und habe gewartet bis eine von den Mädchen beginnen würde zu schreien. Das passierte auch kurze Zeit später. Mit schneller Bewegung mache ich das Licht an und sah, wie er bei einer Halbnackten am Bett stand. Plötzlich drehte er sich um. Ich drückte den Abzughebel des alten Familiengewehrs durch und er flog nach hinten. ›Ach die Hässliche‹ röchelte er. Aus seinem zerschmetternden klaffenden Arm suppte Blut. Ich schickte die Mädchen um jemanden zu holen. Dann rammte ich mir ein Küchenmesser in den Oberschenkel.“
„Was du dir selbst? Ist das nicht gefährlich?“ fragte Jimmy schon ahnend worauf es hinauslief.
– „Gefährlich nicht, wenn man sauber an den Arterien vorbeisticht, – dafür schmerzhaft. Jedenfalls drückte ich ihm das Messer dann in die Hand und rief um Hilfe. Bevor er wusste wie ihm geschah schoss ich ein weiteres Mal und traf ihn diesmal in den Bauch. Als die anderen vom Fest rüberkamen lag ich in einer Ecke und hielt mir mit einem Kissenbezug die Wunde zu. Natürlich war alles voller Blut. Tom Bronko hat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geatmet, aber scheinbar hatte er mir eine letzte Ehre erwiesen, denn das Messer hielt er krampfhaft in seine Faust geballt.“
„Und was passierte dann?“ fragte Jimmy nun ganz aufgedreht: „Was hat die Polizei gesagt?“
– „Ich erzählte ihnen, wie ich ihn bei den Mädchen erwischt hatte und dass ich ihm in den Arm geschossen habe, als er nicht aufhörte sie zu begrapschen. Die kleine Eva, die zu diesem Zeitpunkt als einzige wach war hat meine Geschichte bestätigt. Den zweiten Schuss rechtfertigte ich mit Notwehr, weil der Bronko mit einem Messer auf mich zugestürzt kam.“
„Das heißt du bist einfach so davorngekommen? Ohne alles, keine Anzeige, keine Untersuchungshaft oder was man so kennt?“
– „Nicht ganz, versteht sich. Natürlich wurde alles gründlich untersucht, aber der Fakt, dass Bronko schon früher in solcher Art Tat aufgefallen ist spielte mir in die Karten. Ich weiß noch genau, wie er mich kurz vor seinem Tot angesehen hat. Es schien als wenn er für einen kurzen Moment seine Dummheit abgelegt hatte, denn er säuselte etwas wie ›du ziehst das voll durch was?‹. Dann hat er ein letztes ekelhaftes verklingendes Lachen von sich gegeben und das wars dann.“
„Du bist eine kaltblütige Mörderin,“ stellte Jimmy fest. In seinem Kopf drehten sich allerlei Gedanken und Fragen und das ganze schien so absurd zu sein, dass er es kaum glauben konnte. Gleichzeitig empfand er die dunkle Heldenhaftigkeit die Anke ausstrahlte als wahnsinnig sexy und anturnend. Wie konnte jemand so gerissen sein? Fragte er sich wiederholt, lächelte dabei und sah sie an. Sie wusste wohl was in ihm vorging, denn während der wie eine Ewigkeit andauernden 5 Minuten dieses Augenblicks sagte sie kein Wort und schaute nur freundlich zurück.
„Ich kann es immer noch nicht glauben Anke, das ist ja krass. Fühlst du dich gar nicht schuldig damit?“
– „Ach Jimmy, Schuld ist doch von tiefer Irrelevanz, wenn etwas getan werden muss. Natürlich mache ich mir Vorwürfe, keine Frage. Aber unter dem Strich versuche ich das Gute zu sehen. Denn auch wenn Tom Bronko anders aussah, so war er ein Schwein. Und Schweine werden auf dieser Erde nun mal geschlachtet.“
Wieder saß Jimmy kurze Zeit einfach so da. Dann plötzlich nahm er Ankes Hand und küsste sie. Beide sahen sich an und mussten laut lachen. Sie waren hässlich. Anke eine Mörderin, aber sie hatten eine Chance. Jimmy wusste das. Vergnügt und wohl wissend, dass sie sich nun endlich dem romantischen Kitsch hingeben konnten liefen die beiden durch die Nacht hinein in eine gemeinsame Zukunft.

Jahre später schlägt Jimmy eines Morgens die Zeitung auf und liest im Lokalteil etwas über einen Kinderschänder. ›Tim B. schlug wieder zu‹ lautete die Überschrift und Jimmy las interessiert weiter. Aber erst als der Geburtsort des Täters genannt wurde, begann er stutzig zu werden. Wie im Rausch las er die folgenden Zeilen: ›Der Kinderschänder wurde gestern vom Landgericht Brandenburg zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt. Der Grund für die hohe Strafe sei der lange Vorstrafenregister des Angeklagten so der Richter‹ Jimmy holte tief Luft und lehnte sich zurück, dann schmunzelte er und blickte an die Decke.

Alternative Enden:
1.) Acht Jahre später. Anke und Jimmy wollen heiraten. Alles ist bereit. Die schicke Kleidung steigert die Attraktivität der beiden für Außenstehende wenig. Das Schönste an diesem Abend sind die Trauzeugen. Am Abend zuvor belauscht Jimmy durch Zufall ein Gespräch zwischen seiner zukünftigen Frau und deren Freundinnen, als er an der Festhalle vorbeigeht. Eine Blonde mit prallem Busen hat gerade die allseits typische Frage nach der Art des Kennenlernens gestellt und nun antwortet Anke: „Also wir kennen uns ja schon seit der Oberstufe, aber so richtig gefunkt hat es dann erst 2012. Ich kam nichtsahnend in ein Restaurant und plötzlich sah ich ihn dort sitzen. Wir haben uns nett unterhalten. Ich hab mir eine witzige Geschichte ausgedacht und da ist er voll drauf abgefahren.“ – „Was für eine Geschichte?“ fragt die Blonde wieder. – „Na du weißt schon, eine mit Action eben, worauf Männer so abfahren, Knallharte Bräute, Blut, Heldentum, das Ganze Pipapo. Auf jeden Fall hat er mir das ganze auch fast nicht geglaubt, aber ich denke das war bei uns der Liebestropfen auf den heißen Stein oder wie man so sagt.“

2.) Die Wochen strichen ins Land und Anke strich sie am Kalender ab. Sechs Jahre war sie nun mit Jimmy zusammen und in all den Jahren hatte sie ihm nie gesagt, dass die Geschichte, bei der er sich in sie verliebt hatte erfunden war. Ihr war schnell klar geworden, und das vor allem Aufgrund ihrer Abscheulichkeit, dass sie im Leben etwas anderes Brauchte, als das Konventionelle. Wenn sie einen Mann verzücken wollte, dann ging das nicht durch Äußerlichkeit oder liebliche Reize. Ihr Körper war zu abgewrackt, als dass sich damit noch etwas anstellen ließe, das Gesicht zu vernarbt um darauf die Aufmerksamkeit des Gegenüber zu lenken. Was blieb war die Härte, das Moralische und vielleicht auch Böse und eben da hatte sie einen Stich gemacht. Nachträglich tat es ihr aber immer wieder weh, wenn Jimmy sie zärtlich ›Mörderin‹ oder ›Vollstreckerin‹ nannte, wenn sie es im Bett trieben oder er ihr mit einem lieblichen Kuss auf die Wange ein ›schlaf gut, du Killerpüppchen‹ zur Nacht ins Ohr hauchte. Sie ertrug es nur mit Mühe, die Lüge, die das Fundament ihrer Beziehung war, aufrecht zu erhalten. Jeden Tag schwor sie sich es ihm heute zu sagen, aber jeden Tag zerbrach dieser Plan an der Angst ihr Geheimnisvolles und Verrücktes Abbild zu verlieren.
3.) Sieben Jahre Später. Die Polizei wird zu einem Haus im nördlichen Berliner Speckgürtel gerufen. Als sie die Wohnung öffnen finden sie zwei schwer verletzte Personen vor. Später wird sich herausstellen, dass es sich dabei um Anke und Jimmy Walker handelte. Beide erliegen noch in der selben Nacht ihren Verletzungen. Ein Sanitäter schildert später, dass besagte Anke Walker noch etwas gesagt haben soll. Der Sanitäter spricht von einem schwer verständlichen Satz, der wohl etwas wie: ›Hätte ich damals bloß abgedrückt‹ gelautet haben könnte. Was dies alles zu bedeuten hat und wer die beiden Opfer so brutal ermordete ist aber weiter unbekannt.

Die heiligen drei Königinnen

Es war unangenehm früh, als ich heut morgen über den graugepflasterten Parkplatz des Supermarkts ging. Vor der Schiebetür begegnete ich drei rundlichen Frauen in den Wechseljahren, deren Haare, dem örtlichen Modetrend folgend, gefärbt waren und rundherum kurz. Wie zum Gruß ans Großvaterland standen sie im Kreis und ihre blond, rot und schwarzen Stoppeln wehten stolz im Wind wie eine deutsche Flagge. Was niemand der Außenstehenden wusste war, dass eben jene Frauen in schändlicher Polygamie und in Partnerschaft mit nur einem Mann lebten. Sein Name war Judas. Judas Bergmann, ein Stamm von einem Baum von einem Mann.
Judas Bergmann lebte nicht weit von hier im Osten der Stadt: Schönwalde II, ein Ghetto so lobsam vorbildlich, dass es jedem Film als lohnende Kulisse dienen konnte. Vor einigen Jahren war über die arterielle Blutversorgung seines linken Beins eine Große Dürre gekommen und in einer brutalen Operation musste es unglücklicher Weise abgeschnitten werden. Seit diesem Tag hatte er sich geschworen das Haus, in das er auf Krücken zurückgekehrt war, nicht mehr zu verlassen.
Chantal Caspar, Melanie Melchior und Britney Balthasar, wie die drei wunderschönen Exemplare weiblichen Lebens getauft worden waren, traten nun in den Laden. Ohne Eifersucht achteten sie einander, wie es sonst nur ein guter Mormone hätte tun können. In ihrem tiefsten Inneren aber träumte jede von ihnen, irgendwann einmal Judas zweites Standbein zu werden und ihm so zu dienen, das kein drittes oder viertes benötigt wurde.
Judas Bergmann saß daheim in seiner kleinen Dreizimmerwohnung. Der Fernseher zeigte ein Programm aus dem Guten-Morgen-TV, aber gute Laune hatte er nicht. Gerade gestern hatte sich sein Hausarzt wieder zu ihm getraut und ihm eine schlimme Botschaft überbringen müssen. Das Rechte Bein, mittlerweile Judas ein und alles, drohte es dem linken Bruder gleichzutun. Die Blutversorgung ließ auch dort langsam nach, die bleicher werdenden Muskelstrukturen verrieten nichts Gutes. Das Einzige was ihn noch retten konnte war eine alte alternative Heilpraxis, über die Judas im Internet gelesen hatte. Dafür benötigte er allerdings drei Rohstoffe, deren Seltenheit bekannt war. Wie es der liebe Gott aber wollte, waren gerade diese vermeintlichen Heilsbringer im Angebot und lagen seit 7 Uhr früh in einem der eisernen Ramschkästen bereit, sich dem Ansturm der Konsumenten entgegenzuwerfen. Also hatte er seine „heiligen drei Königinnen“, wie er sie nannte, losgeschickt ihm eben jenes Angebot zu sichern.
Wie wild ruderte Chantal Caspar mittlerweile mit ihren dicken Armen durch den Laden. „Das muss doch irgendwo sein“, ließ sie verlauten und winkte die Anderen zu sich. „Du schaust da hinten“, sagte sie zu Britney und an Melanie gewannt: „Du durchsuchst das vordere Drittel“. Wie irre begannen die Drei wie lauernde Falken durch die Halle zu kreisen.

Die Gürtelschnallen schrammten dabei immer wieder die eisernen Käfige, in denen die Produkte gefangen waren. Ein Höllenlärm entstand, der durch das regelmäßige Knochenschaben der Rentnerbein-Prothesen untermalt war, insgesamt eine Geräuschkulisse, die das Arbeiten der Kassierer um mindestens weitere 20% zur Hölle machte.
Chantal hatte gleich zu Beginn die Kiste mit den Stoffen gefunden, wollte aber in einem Rausch von Egoismus zunächst eine Ablenkungsaktion starten, um dann klammheimlich als Heldin zu ihrem Judas zurückzukehren.
Sie schaute sich nun um. Melanie arbeitete sich gerade durch die vordere Getränkeabteilung. Die blonde Britney hatte sich auf eine Tiefkühltruhe gestellt und versuchte von dort aus fündig zu werden. Plötzlich sprintete Chantal los. Sie griff behände zu, einmal Gold, einmal Myrre, einmal Weihrauch. Klemmte sich Alles unter ihren beleibten Arm, so dass es fast komplett verdeckt war und eilte zur Kasse. Wie in einer Bewegung zog sie mit der Linken Hand ihr Portmonee aus der Tasche und griff gleichzeitig nach den Waren und zog sie aus ihrer Achselhöhle. Der Verkäufer rümpfte die Nase und kassierte in Rekordzeit. Hinten hatte Chantal schnell geschaltet. Mit stampfenden Schritt donnerte sie auf die Kasse zu, eine Ältere Dame konnte nicht mehr ausweichen und wurde ins Spirituosenregal geschleudert, wo sie später ertrank. Auch Melanie war nun klar geworden was vor sich ging. Sie nahm ihren Mut zusammen und setzte zum Sprung über das Drehkreuz an, schaffte es auch in die Luft zu kommen, allerdings nur 10 cm, weshalb sie kurz vor dieser Schranke wieder aufkam. Durch die Wucht und der damit verbundenen physikalischen Erklärung kam sie samt der Sperre außerhalb des Marktes wieder zum stehen.
Chantal befand sich mittlerweile auf dem Parkplatz, hinter ihr die blonde Britney, pfeilschnell, wie Usain Bolt, kam sie am Auto an, in dem Chantal gerade versuchte die Türen zu verriegeln. Mit einem deftigen Schwung riss sie die Beifahrertür auf und quetschte sich in den Smart. Durch die Eruption im Wagen zersprang die Rückscheibe und eine Scherbe schleuderte nach vorn. Schwer verletzt versuchte Chantal die Blutung zu stoppen. Von der roten Flüssigkeit angestachelt geriet Britney in einen gefährlichen Blutrausch. Immer wieder schlug sie auf Chantal ein, deren dickes Gesicht mittlerweile unkenntlich war und schon fast dem Hackfleisch im Tiefkühlregal glich. Vollends zermürbt stürzte sie aus der Auto und verendete. Britney ließ das kalt. Sie schob sich hinters Lenkrad und startete die Maschine.
Melanie konnte nur noch die Abgase erfassen als sie keuchend die Blutbesudelte Stelle erreichte. Chantal sah äußerst übel aus, aber noch übler war die ganze Situation. Verzweifelt sank Melanie zu Boden. Tränen rannen ihr aus den Monströsen Augen unter ihrer schwarzen Lockenpracht. „Er wird sie heiraten“, röchelte Chantal mit ihrem letzten Atemzug.
Britney war guter Dinge, mit 130Km/h befand sie sich nun auf dem Weg durch die Innenstadt. Sie wusste genau, welchen Stellenwert die drei Rohstoffe besaßen, die Chantal in den Kofferraum geworfen hatte. Sie wusste, dass damit ihr Traum in Erfüllung gehen würde. Ihr ewig währender Traum der Monogamie.
Melanie blinzelte. Durch die Fingerritzen hatte sie etwas Merkwürdiges gesehen. Und es stimmte tatsächlich. Als sie herankroch blickte sie auf den Beutel, der mit Gold, Myrre und Weihrauch gefüllt war. Was war da plötzlich eine Kraft in ihr. Sie zerrte sich hoch und begann zu laufen. Nach Schönwalde waren es 30 Minuten. Sie überquerte eine nach der anderen Kreuzung, fühlte sich selbst wie der kleine Muck, den sie früher immer bewundert hatte, nach Außen aber gab sie ein anderes Bild ab. Ein Schulbus fuhr vorbei und für die Horde pickeliger Pubertierender war Melanie ein gefundenes Fressen. Sogar der Busfahrer schien langsamer zu fahren, damit die Schamlosen Kinder lautstark ihre Parolen aus den angeklappten Fenstern rufen konnten. Melanie merkte davon nichts. Nie in ihrem Leben war sie so Zielorientiert gewesen. Es war fast so, als wenn über Judas Heim ein Stern schwebte, ein Stern, der seinen Namen trug und der zeigte ihr den Weg.
Nun war sie fast da. Mittlerweile waren ringsherum noch mehr Sterne um sie herum aufgetaucht, wie in Trance stolperte sie ihrer Erfüllung entgegen als im nächsten Augenblick ein Smart kurz vor ihr von einem Lastwagen erfasst wurde. Mechanisch blieb sie stehen, realisierte aber nicht mehr, dass es Britney war, die nun dort in den Flammen verbrannte, nahm die Beine wieder in die Hand und erreichte nun den Hauseingang. Judas wohnte Pattere, sie dreht den Schlüssel und war in der Wohnung. „Judas, ich hab Leckerli für dich“, rief sie herein. Keine Antwort. Sie trat in die Wohnstube, sah gleich den Stummel des linken Beines aus dem Sessel vergucken. „Judas, warum antwortest du nicht, ich bringe dir Gold, Myrre und Weihrauch.“ Sie war nun ganz im Zimmer, blickte über die Lehne und erschrak. Judas sah nicht gut aus. Zusammengesunken lag er im Sessel, die hintere Schädeldecke weggeblasen, von einer Kugel ausradiert. Die Pistole lag auf dem Boden, daneben der Laptop. Sie sah die Seite für alternative Heilpraxis, las, reflektierte und brach zusammen. Das letzte was Judas gesehen haben musste war ein Kommentar eines Nutzers: „Diese Heilmethode ist völliger Schwachsinn, wer sowas glaubt, der kauft auch Markenprodukte. Ein Raucherbein ist kein Hokuspokus. Eine arterielle Gefäßverengung ist eine ernstzunehmende Krankheit, die nur von Fachärzten behandelt und notfalls operiert werden kann. Ich gebe Ihnen allen einen Tipp: Glauben sie nicht alles was im Internet steht.“

trennung emotionale (2009)

alles bricht entzwei,
alles geht vorbei,
weil alles enden muss,
gibt es immer einen schluss.

doch weine nicht mein schatz,
es war nicht alles für die katz,
wir hatten eine wirklich schöne zeit,
gefüllt mit viel glückseligkeit.

weißt du noch am baggersee,
dort verlor ich meinen großen zeh,
und überall war mein blut,
doch du hast mich geküsst,
und alles war gut.

wir haben geschlafen am strand,
unter uns knirschte der sand,
der mond stand hoch am himmelszelt,
uns gehörte die ganze welt.

irgendwann sind wir zusammen gezogen,
dort dealten wir gemeinsam mit drogen,
wir hatten ein wirklich gutes leben,
ich dachte es würde niemanden anderen geben.

wir haben uns nie belogen,
doch dann hast du mich mit dem junkee betrogen.
ich hab euch an der zimmertür gehört,
ich war wie am boden zerstört.

es war sommer und ich wollte dir verzeihen,
dann kam der winter, es begann zu schneien,
die kälte und die einsamkeit,
machten mich zu allem bereit.

ich verließ dich und auch das land,
vorher steckte ich noch deine wohnung in brand,
und hinterließ dir ein schreiben,
ein schönes leben – wir können ja freunde bleiben.

im roggenfeld (2011)

der onkel sprach zur tante:
„sieh wie schön der roggen blüht“,
dann warf er sich zu ihr ins feld,
das haupt gestreckt nach süd.

ein jäger kam des weges,
und sah die beiden liegen,
er legte sich zu ihnen,
um auch sich zu vergnügen.

da streckte gott den finger hoch,
und sprach „was soll denn das?
ihr treibets hier in mohn und korn,
das kommt mir nicht zupass.“

da sprach die tante ganz charmant,
mit kirschenroten lippen,
„herr gott, das ist nicht unsere schuld,
du ziehst ja hier die strippen“