Die heiligen drei Königinnen

Es war unangenehm früh, als ich heut morgen über den graugepflasterten Parkplatz des Supermarkts ging. Vor der Schiebetür begegnete ich drei rundlichen Frauen in den Wechseljahren, deren Haare, dem örtlichen Modetrend folgend, gefärbt waren und rundherum kurz. Wie zum Gruß ans Großvaterland standen sie im Kreis und ihre blond, rot und schwarzen Stoppeln wehten stolz im Wind wie eine deutsche Flagge. Was niemand der Außenstehenden wusste war, dass eben jene Frauen in schändlicher Polygamie und in Partnerschaft mit nur einem Mann lebten. Sein Name war Judas. Judas Bergmann, ein Stamm von einem Baum von einem Mann.
Judas Bergmann lebte nicht weit von hier im Osten der Stadt: Schönwalde II, ein Ghetto so lobsam vorbildlich, dass es jedem Film als lohnende Kulisse dienen konnte. Vor einigen Jahren war über die arterielle Blutversorgung seines linken Beins eine Große Dürre gekommen und in einer brutalen Operation musste es unglücklicher Weise abgeschnitten werden. Seit diesem Tag hatte er sich geschworen das Haus, in das er auf Krücken zurückgekehrt war, nicht mehr zu verlassen.
Chantal Caspar, Melanie Melchior und Britney Balthasar, wie die drei wunderschönen Exemplare weiblichen Lebens getauft worden waren, traten nun in den Laden. Ohne Eifersucht achteten sie einander, wie es sonst nur ein guter Mormone hätte tun können. In ihrem tiefsten Inneren aber träumte jede von ihnen, irgendwann einmal Judas zweites Standbein zu werden und ihm so zu dienen, das kein drittes oder viertes benötigt wurde.
Judas Bergmann saß daheim in seiner kleinen Dreizimmerwohnung. Der Fernseher zeigte ein Programm aus dem Guten-Morgen-TV, aber gute Laune hatte er nicht. Gerade gestern hatte sich sein Hausarzt wieder zu ihm getraut und ihm eine schlimme Botschaft überbringen müssen. Das Rechte Bein, mittlerweile Judas ein und alles, drohte es dem linken Bruder gleichzutun. Die Blutversorgung ließ auch dort langsam nach, die bleicher werdenden Muskelstrukturen verrieten nichts Gutes. Das Einzige was ihn noch retten konnte war eine alte alternative Heilpraxis, über die Judas im Internet gelesen hatte. Dafür benötigte er allerdings drei Rohstoffe, deren Seltenheit bekannt war. Wie es der liebe Gott aber wollte, waren gerade diese vermeintlichen Heilsbringer im Angebot und lagen seit 7 Uhr früh in einem der eisernen Ramschkästen bereit, sich dem Ansturm der Konsumenten entgegenzuwerfen. Also hatte er seine „heiligen drei Königinnen“, wie er sie nannte, losgeschickt ihm eben jenes Angebot zu sichern.
Wie wild ruderte Chantal Caspar mittlerweile mit ihren dicken Armen durch den Laden. „Das muss doch irgendwo sein“, ließ sie verlauten und winkte die Anderen zu sich. „Du schaust da hinten“, sagte sie zu Britney und an Melanie gewannt: „Du durchsuchst das vordere Drittel“. Wie irre begannen die Drei wie lauernde Falken durch die Halle zu kreisen.

Die Gürtelschnallen schrammten dabei immer wieder die eisernen Käfige, in denen die Produkte gefangen waren. Ein Höllenlärm entstand, der durch das regelmäßige Knochenschaben der Rentnerbein-Prothesen untermalt war, insgesamt eine Geräuschkulisse, die das Arbeiten der Kassierer um mindestens weitere 20% zur Hölle machte.
Chantal hatte gleich zu Beginn die Kiste mit den Stoffen gefunden, wollte aber in einem Rausch von Egoismus zunächst eine Ablenkungsaktion starten, um dann klammheimlich als Heldin zu ihrem Judas zurückzukehren.
Sie schaute sich nun um. Melanie arbeitete sich gerade durch die vordere Getränkeabteilung. Die blonde Britney hatte sich auf eine Tiefkühltruhe gestellt und versuchte von dort aus fündig zu werden. Plötzlich sprintete Chantal los. Sie griff behände zu, einmal Gold, einmal Myrre, einmal Weihrauch. Klemmte sich Alles unter ihren beleibten Arm, so dass es fast komplett verdeckt war und eilte zur Kasse. Wie in einer Bewegung zog sie mit der Linken Hand ihr Portmonee aus der Tasche und griff gleichzeitig nach den Waren und zog sie aus ihrer Achselhöhle. Der Verkäufer rümpfte die Nase und kassierte in Rekordzeit. Hinten hatte Chantal schnell geschaltet. Mit stampfenden Schritt donnerte sie auf die Kasse zu, eine Ältere Dame konnte nicht mehr ausweichen und wurde ins Spirituosenregal geschleudert, wo sie später ertrank. Auch Melanie war nun klar geworden was vor sich ging. Sie nahm ihren Mut zusammen und setzte zum Sprung über das Drehkreuz an, schaffte es auch in die Luft zu kommen, allerdings nur 10 cm, weshalb sie kurz vor dieser Schranke wieder aufkam. Durch die Wucht und der damit verbundenen physikalischen Erklärung kam sie samt der Sperre außerhalb des Marktes wieder zum stehen.
Chantal befand sich mittlerweile auf dem Parkplatz, hinter ihr die blonde Britney, pfeilschnell, wie Usain Bolt, kam sie am Auto an, in dem Chantal gerade versuchte die Türen zu verriegeln. Mit einem deftigen Schwung riss sie die Beifahrertür auf und quetschte sich in den Smart. Durch die Eruption im Wagen zersprang die Rückscheibe und eine Scherbe schleuderte nach vorn. Schwer verletzt versuchte Chantal die Blutung zu stoppen. Von der roten Flüssigkeit angestachelt geriet Britney in einen gefährlichen Blutrausch. Immer wieder schlug sie auf Chantal ein, deren dickes Gesicht mittlerweile unkenntlich war und schon fast dem Hackfleisch im Tiefkühlregal glich. Vollends zermürbt stürzte sie aus der Auto und verendete. Britney ließ das kalt. Sie schob sich hinters Lenkrad und startete die Maschine.
Melanie konnte nur noch die Abgase erfassen als sie keuchend die Blutbesudelte Stelle erreichte. Chantal sah äußerst übel aus, aber noch übler war die ganze Situation. Verzweifelt sank Melanie zu Boden. Tränen rannen ihr aus den Monströsen Augen unter ihrer schwarzen Lockenpracht. „Er wird sie heiraten“, röchelte Chantal mit ihrem letzten Atemzug.
Britney war guter Dinge, mit 130Km/h befand sie sich nun auf dem Weg durch die Innenstadt. Sie wusste genau, welchen Stellenwert die drei Rohstoffe besaßen, die Chantal in den Kofferraum geworfen hatte. Sie wusste, dass damit ihr Traum in Erfüllung gehen würde. Ihr ewig währender Traum der Monogamie.
Melanie blinzelte. Durch die Fingerritzen hatte sie etwas Merkwürdiges gesehen. Und es stimmte tatsächlich. Als sie herankroch blickte sie auf den Beutel, der mit Gold, Myrre und Weihrauch gefüllt war. Was war da plötzlich eine Kraft in ihr. Sie zerrte sich hoch und begann zu laufen. Nach Schönwalde waren es 30 Minuten. Sie überquerte eine nach der anderen Kreuzung, fühlte sich selbst wie der kleine Muck, den sie früher immer bewundert hatte, nach Außen aber gab sie ein anderes Bild ab. Ein Schulbus fuhr vorbei und für die Horde pickeliger Pubertierender war Melanie ein gefundenes Fressen. Sogar der Busfahrer schien langsamer zu fahren, damit die Schamlosen Kinder lautstark ihre Parolen aus den angeklappten Fenstern rufen konnten. Melanie merkte davon nichts. Nie in ihrem Leben war sie so Zielorientiert gewesen. Es war fast so, als wenn über Judas Heim ein Stern schwebte, ein Stern, der seinen Namen trug und der zeigte ihr den Weg.
Nun war sie fast da. Mittlerweile waren ringsherum noch mehr Sterne um sie herum aufgetaucht, wie in Trance stolperte sie ihrer Erfüllung entgegen als im nächsten Augenblick ein Smart kurz vor ihr von einem Lastwagen erfasst wurde. Mechanisch blieb sie stehen, realisierte aber nicht mehr, dass es Britney war, die nun dort in den Flammen verbrannte, nahm die Beine wieder in die Hand und erreichte nun den Hauseingang. Judas wohnte Pattere, sie dreht den Schlüssel und war in der Wohnung. „Judas, ich hab Leckerli für dich“, rief sie herein. Keine Antwort. Sie trat in die Wohnstube, sah gleich den Stummel des linken Beines aus dem Sessel vergucken. „Judas, warum antwortest du nicht, ich bringe dir Gold, Myrre und Weihrauch.“ Sie war nun ganz im Zimmer, blickte über die Lehne und erschrak. Judas sah nicht gut aus. Zusammengesunken lag er im Sessel, die hintere Schädeldecke weggeblasen, von einer Kugel ausradiert. Die Pistole lag auf dem Boden, daneben der Laptop. Sie sah die Seite für alternative Heilpraxis, las, reflektierte und brach zusammen. Das letzte was Judas gesehen haben musste war ein Kommentar eines Nutzers: „Diese Heilmethode ist völliger Schwachsinn, wer sowas glaubt, der kauft auch Markenprodukte. Ein Raucherbein ist kein Hokuspokus. Eine arterielle Gefäßverengung ist eine ernstzunehmende Krankheit, die nur von Fachärzten behandelt und notfalls operiert werden kann. Ich gebe Ihnen allen einen Tipp: Glauben sie nicht alles was im Internet steht.“

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