Die Wahl des Kröterichs

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Klaus Kröterich sitzt vor seinem Laptop der Marke Acer. Auf dem Schreibtisch steht ein großer kalter Pott Kaffee, ein niegelnagelneuer Baseballschläger aus Aluminium liegt daneben. Die Maschine schnurrt wie ein in die Jahre gekommenes Kätzchen. Die Nadel der eingebauten physikalischen Festplatte hämmert unrund durch die Rillen bei jeder Umdrehung. Ist alles nicht mehr ganz neu beim Kröterich. Aber so richtig Arbeiten für was Besseres will er auch nicht. Dennoch sitzt er auch da vor seiner antiquarischen Maschine und tippt. Der Text soll ein Anschreiben darstellen für einen Job als Kassierer bei einer Drogeriekette, zu der sich Klaus weniger als halbmotiviert gezwungen sieht. Doch der Text ist nicht geeignet, um ein Bewerbungsgespräch zu bekommen. Zuviele Rechtschreibfehler irren in den Zeilen umher, zuviele ungeschickte Satzformulierungen offenbaren sein unterdurchschnittliches Engagement, zwischendrin hat er zuviele unpassende Argumente für sich ins Rennen geworfen. Eigentlich manifestiert sich seine gesamte, ausufernde Faulheit, seine lümmelhafte Lethargie in diesem Schreiben. Und in Kevins Kopf wuchert eine wegweisende Entscheidung. Er hat die Wahl zwischen diesem Anschreiben und dem damit im besten Fall verknüpftem anschließenden jahrelangen Schuften oder einem Mord. Einem Mord an seiner Mutter, der stinkreichen geizigen Witwe Helga Kröterich.
Er versucht auf dem rechten Pfad zu bleiben. Er hat sich nicht nur vorgenommen ein guter Mensch zu bleiben, er will es auch sein. Nochmal huscht sein Blick durch die Zeilen seines Schreibens, dort fügt er ein h hinzu, hier ein e, da ein zweites m. Den vierten Satz stellt er komplett um, eine Meisterleistung. Weiter unten sucht er sogar extra ein paar Synonyme heraus, einen langen Satz macht er zu zwei kurzen, das ganze nimmt Gestalt an. Doch mit dem Prozess des Schreibens setzt auch einer des Denkens ein. Eine Phantasie übernimmt sein Unterbewusstsein. Er sieht sich an der Kasse sitzen, stundenlang das Piepen im Ohr, akneübersähte Jugendliche fragen nach der besten Hautreinigungstinktur, die immergleiche Frage nach dem Bonbedarf, die Ungemütlichkeit des billigen Drehstuhls, die Hektik des Abkassierens, die ermüdend redundante Armbewegung von rechts nach links, das nervige Kopfrechnen…

In dem Moment, indem ihn der Mut verlässt, fällt eine Münze.

Zuerst streift er sich die gelben Lederhandschuhe bis zu den Handgelenken rüber, dann greift er sich den Baseballschläger aus Alu, geht ein Stockwerk tiefer und haut seiner Mutter den Schädel ein. Zack, kapuff, die Luft entweicht, der Kopfknochen knackt, Blut strudelt, sie sinkt auf den Eisbärpelz im Wohnzimmer, das wars. Er zieht ein paar Schubladen aus den Schränken, wühlt in den Sachen herum, wirft die Schmucksammlung quer durchs Zimmer, schlägt mit einem großen Zimmermannshammer auf den mickrigen Tresor ein, bis dieser aufspringt, kippt die Blumenkübel um, zerschlägt die Nachtschränke, lässt die Aufbewahrungsgläser auf den Fliesen in der Küche zerspringen, streut den Inhalt der Handtaschen in den Flur.
Die wertvollsten Sachen wirft er in einen kleinen Beutel, den er unter einer losen Stufe im Hausflur versteckt. Dann geht er hoch, direkt in seine Küche, greift das kleine Holzbrett, das schärfste Messer und eine Zwiebel. Er durchtrennt das Rundgewächs mit einem schwungvollen Hieb und presst den süßen Saft mit seiner starken Bärenhand in ein kleines Shotglas, streift die Handschuhe ab und wischt sich die wässrige Lösung über die Augenlider, viele Male, bis seine Augen vor Tränen nichts mehr sehen als Schemen und Schatten. Wie einstudiert greift er zum Telefon, wählt die 110 und schluchzt ins Telefon was vorgefallen ist, ein Raubmord, viel Blut, alles durchsucht, alles weg, “kommen Sie schnell, kommen Sie schnell”, er ist in der Rolle seines Lebens. Die Polizei trifft dann ein, er hockt schon bereit im Flur auf der losen Stufe mit seinen feuerroten, tränenden Augen. “Tag. Ja. Tot. Ich habe einen Schrei gehört, Getrampel und Rumpeln. Dann bin ich runtergestürmt aber es war zu spät. Tot meine liebste Mutter. Tot.” Photos werden gemacht, eine Liste mit dem Diebesgut wird aufgestellt, eine Seelsorgerin wird herangefahren, Klaus spielt sein Meisterstück, der Fall wird bald niedergelegt. Die Frau war eh alt und alles sah nach Raubmord aus.

Einen Monat später. Klaus Kröterich sitzt vor seinem Macbook der Marke Apple. Auf dem Schreibtisch steht ein großer dampfender Pott Kaffee, eine niegelnagelneue Rolex glitzert an seinem Unterarm. Die Maschine gibt keinen Ton von sich. Er sitzt davor und tippt. Der Text soll eine Stellenausschreibung darstellen für einen Job als Butler in seinem Haus.

Die Bestellung


Es ist Dienstag der 10.Juli 2018. Horst Seehofer lümmelt gemütlich und sichtlich gut gelaunt in seinem Sessel. Vor ihm ein langer Tisch, an dem neben ihm eine Reihe beschäftigt wirkender Personen sitzen. Bei der Szenerie handelt es sich um die Pressekonferenz zur Vorstellung von Horsts Prestigeprojekt „Masterplan Migration“. Es ist ein dickes Heft mit 63 Punkten das vom markenrelauncheten Heimatministerium entwickelt wurde. Gerade erst, am 4.Juli hatte Horst Geburtstag und diesen nimmt er zum Anlass um elegant und in seiner ganz eigenen unverfänglich menschlichen Art auf eine grandiose Glanzleistung seiner neu geformten Abschiebekultur hinzulenken.

Während er stolz in die Runde der anwesenden Kollegen und Journalisten schaut, fasst er den Erfolg in Worte. „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden.“ Die Kollegen lächeln derweil fröhlich in sich hinein. Horst schmunzelt vergnügt als er das lustige Zahlenspiel dropt. Wenn man ihn so beobachtet, kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass es ein berauschendes Gefühl sein muss, das Schicksal von 69 Menschen in seinem 69ten Lebensjahr massiv beeinflussen zu können. Wenn dieser Mengenzusammenhang keinen göttlichen, ja christlichen Hintergrund hat, dann kann es eigentlich keinen Gott geben.

Am Abend des gleichen Tages wird eine der 69 abgeschobenen Personen tot in einer Unterkunft in Kabul aufgefunden. Der 23 jährige Afghane, der seit 2011 in Deutschland geduldet gelebt hatte und aufgrund einer Verurteilung der Körperverletzung und des Diebstahls nun abgeschoben wurde, hatte sich mit einem Gürtel an einem Fenstergitter das Leben genommen.

Es ist Donnerstag der 12.Juli 2018. Ein sonniger Tag bricht an und Horst Seehofer tritt erneut freudestrahlend vor die Mikrophone der Nation. Die Knöpfe seines schwarzen Anzugs, der mit einer blau-weiß gestreiften CSU Krawatte kombiniert ist, scheinen seiner vor Stolz geschwellten Brust beinahe zum Opfer zu fallen. Langsam beugt er sich auf seinem Stuhl nach vorne. Dann blickt er noch einmal erwartungsvoll in die Runde der anwesenden Journalisten. Schon bevor er etwas sagt, scheint er innerlich zu feixen, er kann seine Mundwinkel kaum kontrollieren, sie schnellen immer wieder schelmisch Richtung Ohren. Dann endlich fasst er sich und spricht in gewohnt ruhigem Ton: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag – und das war gar nicht so abgesprochen – habe ich von meiner lieben Frau Karin einen neuen Schweinsledernen Gürtel geschenkt bekommen.“

[fiktionale Prosa]

Wenn dann auch sie sich vergisst

Gudrun E. sitzt am Küchentisch mit ihrem demenzkranken Mann Wolfgang. Gedankenverloren schmiert sie ihm eine dicke Schnitte Pumpernickel mit Leberwurst. Das war sein Leibgericht. Ob er das noch weiß fragt sie sich. Es schmeckt ihm jedenfalls. Jeden Tag aufs neue. Sie kauft für ihn schon gar nichts anderes mehr ein. Ist auch so genug zu tragen. Und sie ist ganz allein mit ihm. Ihre Kinder scheren sich nicht. Und auch die Enkelkinder zelebrieren die Kontaktlosigkeit. Es ist ein furchtbares Schicksal, findet sie. Den Mann, den sie vielleicht mal geliebt hat, gibt es nicht mehr. Und wenn doch, dann nur schemenhaft, flüchtig, nur wie eine Ahnung, nichts an dem man sich festhalten kann. Nichts hat Bestand und alles kann im nächsten Moment wieder vergessen sein.

In der Küche ist eine spezielle Vorrichtung am Herd angebracht. Sie soll verhindern, dass Wolfgang die Wohnung in Brand setzt. Installiert hat das so eine Firma aus dem Hamburger Umland. Haben sich eine goldene Nase verdient für die paar Handgriffe. Gudrun ist sich noch bewusst, dass die Preise viel zu hoch sind, die man ihnen abverlangt. Aber sie versteht das Internet nicht und ein Telefonbuch durchzuwälzen ist viel zu anstrengend. Dann zahlt man halt drauf. Und die anderen machen den Reibach. Auch sonst sind alle gefährlichen Gegenstände gut verstaut. „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für Demenzkranke nicht“, hat die Beratungstante vom Pflegedienst damals gesagt. Was für ein dummes Gelaber. Aber ist ja oft so denkt sie, da wo der Humor am besten und ausgefallensten sein sollte, in der dunkelsten Stunde, da ist er pomadig und billig.
Die Leute vom Pflegedienst kommen zweimal die Woche. Sie waschen Wolfgang, bringen ihm Tabletten und ordnen seine Sachen. Auch da wird gereibacht. Gudrun spürt das. Die Pflegekräfte sind zwar nicht besonders gut bezahlt, dafür aber die Leiter und Besitzer dieser Firmen. Ahnungslosigkeit kostet. Und Gudrun würde gern mal wieder eine Kreuzfahrt machen. Sonne, Pazifik und vielleicht lernt sie einen anderen Mann kennen, einen der noch nicht Matsch in der Birne ist. Sie hasst ihre Gedanken. Aber sie kommen ihr hin und wieder. Sie hat es sich schon anders vorgestellt. Knapp 7 Jahre ist sie erst Seniorin. Das kleine Haus sollte ihr Paradies werden. Mit den Enkeln spielen. Immer Besuch haben. Viel lesen. Herrlich kochen, Wein verkosten. Den Garten pflegen. Ab und zu in den Urlaub. Das hatte sie sich mal vorgestellt. Mit 63. Dann kam die Rente. Und es war schön die ersten zwei Jahre. Dann wurde der Sack krank. Ging nichts mehr. Aus der altersbedingten Vergesslichkeit wurde eine deftige Demenz. Mit allem Pipapo. Vergessen, verletzen, verlieren. Die drei großen Vs dieser Volkskrankheit. Dann kam die Isolation. Die Trauer. Einsamkeit.

Jetzt sitzt sie also und denkt mal wieder über das alles nach. Sie ist nicht hasserfüllt. Jedoch verbittert. Und über allem die Frage: Warum wir? So lang durchgehalten. Geschuftet, entbehrt, verschoben. Um dann endlich den Traum zu leben. Wenns doch nur enden würde bei ihm. Wenn der Körper nachziehen würde. Scham überkommt sie wie ein kalter Schauer. Aber es war längst nicht mehr die Scham, die sie am Anfang gespürt hatte, vor einem halben Jahr, als abzusehen war, dass keine Besserung mehr kommen würde, als sie sich zum ersten mal gewünscht hatte, dass er tot sei.

Manchmal schmiedete sie schon Pläne für die Zeit nach ihm. Ausziehen, weg vom nasskalten Hamburg. Irgendwo in den Süden. Italien oder Spanien. Nachts nochmal auf den Straßen sitzen. Frei sein und froh. Kein Gedanke an den näherkommenden Tod, dessen Bruder hier neben ihr am Tisch sitzt und Leberwurststulle isst.

Einem plötzlichem Empuls folgend spricht sie zu ihm: „Wir bekommen Besuch morgen. Maria und Carsten kommen.“ Es ist eine Lüge. Aber sie weiß, dass es ihn wütend macht, wenn Besuch kommt. Das letzte bisschen von seinem Selbst kann so unbekannte Situationen nicht ausstehen. So erklärt sie sich das zumindest. Seit einem Jahr hatten sie kaum jemanden empfangen. Wolfgang brauchte über drei Monate um sich an die Pflegekräfte zu gewöhnen. „Och nö“ sagte er nun laut. Immer wieder. Das hatte er sich behalten. Diese Phrase. Das sagte er ständig. „Och nö, heute ist schönes Wetter“. Sie hasste das fürchterlich. „Doch Wolfgang. Ich habe doch morgen Geburtstag und ich habe die beiden eingeladen.“ Sie wusste immernoch nicht recht, weshalb sie so absonderlich log. Ihr Geburtstag war noch ein paar Wochen hin. Es war wie ein Drang in ihr, eine Eskalation herbeizuführen. Sie brauchte jetzt einen Wendepunkt. Irgendwas neues. Diese tödliche Routine war genug. Sie musste jetzt provozieren. Eher würde sie sterben, als so weiterzuleben. Das dachte sie und war von sich selbst überrascht. Aber das hatte so lange in ihr gewohnt. Sie wusste es. Das war immer dagewesen. Jetzt hatte sie es im Kopf ausformuliert. Es war klar jetzt. Es ging so nicht weiter. Es ging nicht. Es war zu hoffnungslos.

„Und sie bringen auch die Enkel mit. Freust du dich schon?“ Sie empfand gefallen jetzt. Ihn zu quälen. Wie er sie quälte. „Und ein paar Freunde kommen auch dazu. Ingrid, weist du. Vom Tennis. Und Magdalena vom Yoga.“ Das Blut rauscht ihr in den Ohren. Wolfgang hatte den Rest seines Brotes fallen gelassen. Sein Kopf war rot anglaufen. Er bebte. Verrückt, dachte sie. Ob er überhaupt weiß, weshalb er so sauer ist. In diesem Moment erhob er sich ruckartig und ruckelte um den Tisch. Mit einem mal war er so dicht bei ihr, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte. Seine Finger griffen ihr an die Kehle. „Wolfgang“ krächzte sie nun. Plötzlich war die Todesangst da. Sie wollte doch noch nicht sterben. „Wolf…“ presste sie hervor und schlug um sich. Aber Wolfgang lies nicht locker. Seine immernoch starken Pranken hielten sie eisern fest und er presste zu. Sie wirbelte mit den Armen herum und trat mit all ihren Kräften gegen seine Schienenbeine. Er jaulte auf. Auf einmal hatte sie das Käsemesser vom Tisch in der Hand. Sie stach zu. Und wieder. Und nocheinmal. Und weiter und sein Griff lockerte sich langsam. Blut floss ihm in Strömen aus der Brust. Er torkelte zurück. Wie in Trance setzte sie nach. Bald war alles voller Blut. Und dann fiel die Angst von ihr ab wie ein Schleier und sie konnte wieder klar denken. „Wolfgang. Oh Gott. Was habe ich getan“. Sie stolpert durch den Flur zum Telefonapparat im Wohnzimmer. Mit klappernden Fingern wählt sie den Notruf.

Die Renaissance der schwarz-weißen Welt

Sie hängt schon wieder seit Stunden auf Facebook ab. Ihr Zeigefinger scrollt mechanisch im Intervall die endlose Zeitleiste herunter. Ab und zu bleibt sie hängen. Ein ehemaliger Mitschüler hat etwas geliket: Es ist das Pamphlet eines Dresdner AFD-Politikers zu den Anschlägen in Barcelona, Berlin und Nizza. Wer ist Schuld am Terror? Offne Grenzen und radikaler Islam, so die Kurzform.
Sie klickt sofort auf das Profil des Politikers. Eine Facebookseite, wie sie in den deutschstolzen Kreisen üblich ist. Bilder von Fahnen in den Farben schwarz, rot und gold, Bilder mit Anhängern und gleichgesinnten Politikern. Daneben hängt der rote Faden der Hetze: Einwanderung, Wahlmanipulation, linke Politk und das Ende der deutschen Kultur. „Willkommenspolitik ist tödlich“ ist so ein Satz der ihr hängenbleibt. Sie überlegt. Eigentlich kannte sie den Jungen ganz gut. Er war in ihrer Parallelklasse. Keine Leuchte unbedingt, aber auch nicht auf den Kopf gefallen. Wie konnte es dazu kommen, dass der da nun verwickelt ist. Und ist er das überhaupt? Ist ein Like eine 100% Zustimmung, oder eher ein Abnicken oder vielmehr ein „Ja, das ist ein Standpunkt den man auch vertreten kann“? Was bedeutet diese wortlose Zeichengebung?

Sie geht auf sein Profil. Hatte lange nichts von ihm gesehen. Ein paar Urlaubsbilder, irgendwelche Geburtstagsstatements, Bilder mit Freunden und zwischendrin immer wieder Meinungen. Hamburg vom G20-Gipfel wird da thematisiert, mit Bildern der Zerstörung und einem wütenden Text über linken Extremismus. So weit nicht schlimm. Sie scrollt weiter. Hier und da ein Like bei AFD-Angehörigen. Ein, zwei Kommentare zur Merkelpolitik. Irgendwann kommt ihr das doch sehr einseitig vor. Es geht oft um die Verurteilung von Gewalt, diese erfolgt allerdings nie pauschal, sondern ist immer an die Täter geknüpft: Links- und Islamextrimisten. Das ist die Gruppe die verurteilt wird. Ein zweites Thema ist der Schutz des Eigentums, der Schutz der Privilegien Westeuropas: Wohlstand, Wachstum, Wichtigtuerei. Sie spürt, wie sie etwas säuerlich wird bei diesem Anblick.

Auf einem Bild sieht er aus wie ein Gockel. So eine hochgeföhnte blonde Locke, dazu ein Fünftagebart. Ein Grinsen, das vermutlich charmant sein soll. Und der Körper in so einen hellblauen Anzug gesteckt, mit kleiner Fliege unter dem Hahnenhaften Dotterkinn. Sie merkt wie sie sich immer mehr positioniert zu dem. Eine Distanz tut sich auf. Ist es, weil sie seit Monaten viel Spiegelonline liest? Ist sie befangen von der dort ebenfalls tendenziösen Meinungsmache?

Sie will ihm schreiben. Ist schon auf dem Nachrichtenicon. Drückt drauf. „Hallo Markus…“ tippt sie. „ich habe gerade deine Seite überflogen und mir sind viele deiner politischen Likes und Kommentare aufgefallen“. Dann überlegt sie. Bisher ist es nur eine Beobachtungsbeschreibung. Jetzt muss der Umschwung kommen. „Ich wundere mich, warum du einem offensichtlich fremdenfeindlichen Beitrag einen Like gibst.“ Sie grübelt. Dann löscht sie alles wieder. Zu direkt erscheint es ihr nun. Und „wundern“ ist auch so eine blöde Formulierung, das ist so ein versteckter, elender Vorwurf und damit würde sie nichts erreichen. Und „offensichtlich“ war sowieso nichts in dieser Welt, das polarisierte nur noch mehr. Sie beginnt erneut: „Ich finde es nicht gut, dass du einen AFD-Politiker mit Likes unterstützt, der keine differenzierte Meinung formulieren kann, sondern nur die Angst der Menschen zu seinem Zweck ausnutzt“. Das fand sie schon deutlich besser, das mit der Angst war ja immer so der stärkste argumentative Punkt in solchen Diskussionen. Aber dann würde er mit >Realität< anfangen und das Angst nicht immer ein schlechtes Zeichen wäre, sondern ein Instinkt, der Leben retten konnte. Und was war eine "differenzierte" Meinung? Wieviele Quellen musste man gelesen und verwurschtelt haben um als differenziert zu gelten? Höchst verfänglich. Ihr fiel einmal wieder auf wie grausam die Sprache war. Sowieso würde das alles nichts bringen. Falls man irgendwann tatsächlich dahin kam eine konstruktive Diskussion zu führen, würde das passieren was dann irgendwann immer geschah. Die in die Enge getriebene Partei würde sich auf Definitionsschwierigkeiten stürzen, würde behaupten, dass man eigentlich das gleiche sagte und nur die Worte unterschiedlich seien. Manchmal kam es sogar soweit, dass das komplette Kommunikationssystem der Menschen in Frage gestellt wurde, dass den Menschen die Verständigungswilligkeit abgesprochen wurde. Sie brach dann komplett ab mit der Kontakaufnahme. Sie wusste, dass sie ihr Anliegen noch als Frage formulieren könnte, neutral, freundlich, aufgeschlossen. Sodass der andere sich nicht angegriffen fühlt gleich zu Beginn. Aber sie vermutete, dass sie dann nur eine zurechtgelegte Antwort bekommen würde. Eine Mixtur aus Meinung, Fakten und Spekulationen. So richtig aufdröseln wollte ja keiner mehr. Zu wenig selbstkritisch kamen sie alle daher. Auf allen Seiten. Meinungszombies. So nannte sie die mittlerweile. Dabei verband sie im Inneren wohl doch eine Sache. Sie wollten die Welt, die Gesellschaft, ihr Umfeld alle mitprägen. Sie wollten dabei sein und ihre Vorstellungen umsetzen. Es lagen Welten zwischen all diesen beteiligten Parteien. "Kompromiss" war das heilige Wort, dachte sie. Aber die Kompromissfähigkeit verlangte, dass man sich immer wieder verständigte, dass man miteinerander agierte und aufeinander zuging. Das wollte hier jedoch keiner mehr. Die Leute waren faul geworden. Sie wollten sich nicht mit anderen Ansichten auseinandersetzen. Es gab zuviele davon. Einen Überblick zu bekommen war überhaupt nicht mehr möglich. Ihre Köpfe waren so versteinert, dass sie annahmen, sie könnten damit wirklich durch Wände gehen. Was war das nur für eine schrecklich komplexe Welt, dachte sie. Was für ein vermaledeiter Scheiß in den sich die Menschheit da hineingefuhrwerkt hatte, mit ihrem Streben nach der freien Entfaltung. So viele Süppchen und so viele Rezepte dazu, die keiner kannte. Sie öffnete das Fenster. Dann griff sie den Laptop und warf ihn hinaus. Vorbei. Ruhe. Für einen Moment.